Gan(s) weit vorn
Eine Osternburger Gans auf großer Mission.
Gleich hinter dem Drielaker See, dort wo die Wiesen weich und die Lüfte weit sind, lebte die junge Gans Snag. Snag war neugierig, klug und manchmal ein bisschen durcheinander im Kopf. Sie liebte es zu fliegen, aber eine Sache ließ ihr keine Ruhe:
„Warum fliegen wir eigentlich immer in so einer V-Formation? Und wer bestimmt, wer wo fliegt?“
Eines Morgens, während der Morgentau noch auf dem Schilf glitzerte, stellte Snag genau diese Frage an den alten, etwas grummeligen Gänserich Vatsug, der schon drei Mal bis nach Frankreich geflogen war.
Vatsug ruckelte mit den Federn und blinzelte weise.
„Tja, Snag. Gute Frage. Aber frag nicht mich, ich fliege einfach. Wenn du’s genau wissen willst, dann geh zur Flugschule für Junggänse in Iprump.“
„Iprump? Ist das weit?“
„Nö. Ein paar Flügelschläge Richtung Nordwiese, dann über den kleinen Flussbogen. Da gibt’s eine Wiese mit Wind von Westen und genug Platz für alle, die das Fliegen lernen wollen.“
Snag schnatterte vor Aufregung. Endlich Antworten! Und vielleicht ein bisschen Glanz auf den Flügeln, wer weiß.
Flugschule in Iprump
Iprump war eine ruhige Ecke. Es roch nach feuchtem Gras, der Wind roch nach Wasser, und rundherum lag die Landschaft wie ein ausgebreiteter Teppich aus Grün und Himmel.
Auf einer breiten Wiese versammelten sich samstags die Junggänse. Einige trugen bunte Bänder an den Füßen, andere hatten Federn durcheinander vom letzten Trainingsflug. Und in der Mitte stand ein stolzer, schneeweißer Gänserich mit einer goldenen Pfeife um den Hals: Professor Federweis.
„Willkommen zur Flugschule!“, rief er. „Heute lernt ihr, warum wir nicht kreuz und quer fliegen, sondern gemeinsam stark sind.“
Snag setzte sich zwischen zwei schnatternde Gänse und lauschte gebannt.
„Die V-Formation,“ begann Professor Federweis, „ist wie ein Zauberdreieck. Wenn wir sie richtig fliegen, hilft jeder dem anderen. Die vorderste Gans bremst den Wind und hinter ihr fliegen alle leichter. So kommen wir weiter, schneller und ohne müde Flügel.“
Snag staunte. Das war ja wie bei Fahrradfahrern im Windschatten!
„Aber“, hob der Professor die Flügel, „jede Gans muss ihren Platz finden. Das üben wir heute. Und denkt dran: Der Platz vorne ist wichtig, aber ohne die Gänse ganz weit hinten funktioniert es auch nicht!“
Übung mit Überraschung
Die Junggänse probierten sich aus. Mal flog Snag vorne, mal ganz außen. Es war schwieriger, als sie gedacht hatte, besonders das Timing. Immer wieder rief der Professor: „Mehr Abstand! Höher! Schneller! Weniger Purzelbaum, Snag!“
Doch dann passierte es: Die kleine Gans Eidro, zart und verspielt, verlor den Anschluss. Sie flatterte zu langsam, geriet aus dem Wind und trudelte schief nach unten.
Snag sah es sofort. Ohne zu zögern, rief sie den anderen zu:
„Ich flieg zurück! Nehmt die Mitte, ich hole Eidro!“
Sie schwang sich um, schoss durch die Luft und stellte sich schützend neben Eidro.
„Du fliegst einfach in meinem Wind, okay? Ich zieh dich mit durch.“
Und tatsächlich, mit Snags Hilfe glitt Eidro zurück in die Formation, als wär’s ein Tanz mit Flügeln.
Oben am Himmel glänzte die Luft vor Stolz.
Die Auszeichnung
Professor Federweis pfiff in seine goldene Pfeife und rief:
„Pause! Und Applaus für Snag! Wer seinen Platz kennt, ist klug. Aber wer für andere den Platz wechselt, ist weise.“
Snag wurde rot. Also, soweit eine Gans rot werden kann.
Vatsug, der alte Gänserich, tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und nickte anerkennend. „Gans weit vorn bist du heute geflogen, Snag. Und trotzdem ganz nah bei den anderen.“
Snag grinste. Sie verstand jetzt nicht nur, wie man fliegt, sondern auch, warum man nicht immer vorne sein muss, um wichtig zu sein.
Seit diesem Tag flog Snag mit klarem Blick, starkem Herz und einem kleinen silbernen Band an ihrer linken Kralle zur Erinnerung an ihren Mut in Iprump.
Und wenn man genau hinschaut, sieht man sie manchmal über den Drielaker See ziehen, ganz weit vorn, oder ganz weit hinten, aber immer genau da, wo sie gebraucht wird.
Ende