Mona Milbe ✨ Flausch, Fäden und flüsternde Botschaften
Unterwegs zwischen Wäschekorb und Wohnzimmer
Nächte im Wolldeckenland
Seit ihrem Umzug in den Hauswirtschaftsraum war Monas Welt deutlich gedämpfter geworden.
Weniger Allergien. Mehr Flausch.
Dafür aber auch: Mehr Schatten.
Jeden Morgen, wenn Brodie das Haus verließ, Punkt 5:30 Uhr, mit Helm auf dem Kopf und dem Geräusch quietschender Fahrradpedale, kroch Mona vorsichtig unter dem Rand der dunkelgrauen Outdoordecke hervor.
Sie wartete den kurzen Moment ab, wenn die Tür zufiel. Dann huschte sie raus.
Es war immer noch dunkel.
Die Welt draußen roch nach kaltem Tau und frühen Stunden.
Aber Mona liebte diesen Moment. Ihre Minuten unter den Sternen.
Dumdum stand wie immer wachsam auf seinem rostfarbenen Kortenstahlpodest.
Ein stiller Riese. Unerschütterlich.
Seine Silhouette zeichnete sich wie ein Monument gegen das Licht der Straßenlaterne ab.
„Mona“, brummte er mit seiner bröckelnden Stimme, „du bist wieder spät dran.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Aber es ist so kalt.“
„Die Krähen schlafen noch“, knarzte er. „Aber ihre Schatten sind wach.“
Mona zitterte. Nicht nur vor Kälte.
Denn manchmal, wenn das Licht der Laterne flackerte und die kahlen Äste sich bewegten,
wirkte die Welt viel größer, viel bedrohlicher.
Und obwohl sie wusste, dass Schnitti, die Nachbarskatze, draußen patrouillierte,
und Red und Pointer, die Goldfische, friedlich unter der Eisdecke des Grabens dösten,
spürte sie manchmal doch:
Sie war klein. Sehr klein.
Also machte sie kehrt.
Schnell.
Zurück ins Warme.
Unter ihre Lieblings Decke, die mit dem leichten Geruch nach Sommerabenden und Picknickwiese.
Brodie war längst weg.
Dann wurde es still.
Bis plötzlich durch den Boden ein bekanntes Brummen zu hören war.
“Help! I need somebody… Help! Not just anybody…”
Joss. Wohnzimmer. Beatles.
Monas kleines Herz hüpfte.
Sie liebte es, wenn Musik durch das Haus vibrierte.
Dann fühlte sie sich wie eine Staubmilbe in einer Konzertarena.
Und manchmal, wenn sie mutig war, tanzte sie auf den Falten der royalblauen Sweatjacke im Wäscheständer.
Eine kleine Zugabe für sich allein.
Doch nicht alle im HWR-Raum waren so musikalisch veranlagt.
In der Ecke, leicht versteckt zwischen einem alten Wäschekorb und der Box mit den Wäscheklammern, die auf Waschmaschine und Trockner standen wohnte eine kleine Spinnengemeinschaft.
Allen voran: Renni, der Jungspund.
Flink. Neugierig. Mit viel Schalk im Nacken.
Er übte regelmäßig Spinnfäden-Slalom, quer durch Brodies HWR-Raum.
„Renni!“, fauchte Mona eines Morgens. „Wenn Brodie das sieht, denkt sie, hier wohnen Zombies.“
„Ach was“, grinste Renni mit all seinen acht Augen. „Ich nenne es: Raumkunst.“
Seine große Schwester, Bibi, war da zurückhaltender.
Sie spann lieber leise mit.
Immer bereit, ein Ohr zu haben, oder gleich sechs.
Mona mochte die beiden.
Auch wenn sie sich oft fragte, wie lange man mit so vielen Beinen überhaupt ruhig stehen konnte.
Die Nachricht aus dem Papierkorb
Der Tag zog sich wie alter Kaugummi.
Seit Brodie morgens das Haus verlassen hatte und die Beatles verklungen waren, war es still im HWR-Raum.
Sogar Renni war heute ungewohnt brav. Nur Bibi schwang sich ab und an elegant über den Wäscheständer, um zu gucken, ob Joss aus Versehen eine Socke hatte fallen lassen.
Spoiler: Hatte er. War aber langweilig. Grau. Ohne Geschichte.
Mona döste auf ihrer Lieblingsdecke vor sich hin, bis eine neue Idee durch ihren kleinen, aber brillanten Milbenkopf zuckte.
Was, wenn ich eine Nachricht schicke?
Eine echte Nachricht. An Brodie. Ganz geheim. Ganz fein.
Der große Filzkorb auf dem selbstgebauten Schuhschrank neben der Tür war übervoll mit Altpapier.
Kassenzettel, alte Briefe, zerknüllte Werbung, ein wahres Archiv des Alltags.
Manchmal fand Mona dort Dinge, die sie lieber nicht gelesen hätte.
Zum Beispiel: den Zettel mit der Aufschrift „Brodie’s Fastenplan (wieder mal…)“
Oder: „Einkaufsliste – keine Kekse mehr, dafür Datteln?“
Aber heute suchte sie etwas anderes: Zeichenmaterial.
Etwas, das sie benutzen konnte.
Sie kletterte über das weiche Gitter des Filzkorbs, schob alte Kartons zur Seite
und fand eine Werbebroschüre von Discounter um die Ecke.
Mit einem roten Kreis um ein Bild.
Wolldecken: flauschig, ab nächster Woche im Angebot.
Mona starrte.
Dann grinste sie.
Das ist meine Chance.
Sie raste zurück in ihr Versteck und trommelte Renni, Bibi und Schraddi zusammen.
Schraddi, die Assel, schob sich langsam aus ihrem Versteck hinter dem Wäschetrockner hervor.
Ihre grauen Panzerplatten glänzten matt, die Fühler zitterten leicht.
Sie sprach nicht viel. Tat lieber.
„Du willst ’ne Nachricht? Ich brauch Papier und Ruhe“, sagte sie trocken.
Dann krabbelte sie los, mit ihren kleinen, scharfen Kieferwerkzeugen, die so präzise arbeiteten wie Bastelscheren im Kunstunterricht.
Bibi spann derweil feine Spinnfäden zur Aufhängung, Renni sortierte die Buchstaben.
Drei Stunden später war es vollbracht.
Eine Nachricht, liebevoll aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzt, kunstvoll an den Griff der Tonne geklebt, in die der Müll für den gelben Sack kommt.
„WOLLE HIER HWR BITTE BRODIE“
Dumdum, der alles beobachtet hatte, knarzte stolz:
„Mutige Aktion. Ich hab schon halbe Feldzüge gesehen mit weniger Planung.“
Am nächsten Morgen, als Brodie in aller Eile die Tonne öffnete, hielt sie inne.
Sah auf die Botschaft.
Stutzte.
Dann murmelte sie:
„Ich hab doch gesagt, ich brauch noch ’ne Decke fürs Picknick… oder war das für... mich?“
Sie zuckte die Schultern.
Grinste.
Und kramte kurz später ihre Einkaufstasche raus.
Auf leisen Sohlen durch die Nacht
Es war ruhig im Haus.
Nur das Ticken der Küchenuhr und das entfernte Schnurren der Heizung begleiteten Mona, als sie sich nach dem Frühstückskrümel-Abenteuer im HWR-Raum zu einer neuen Expedition entschloss:
Die Küche.
Der Weg dahin war kurz.
Und doch: die Stufe.
Diese eine Erhebung zwischen Hauswirtschaftsraum und Küche war für Brodie eine Kleinigkeit;
für Mona? Ein kleiner Himalaya.
Sie stemmte sich mit aller Kraft an der Sockelfliese hoch. Einmal, zweimal…
beim dritten Versuch klappte es.
Oben angekommen, staunte sie jedes Mal wieder über die Weite.
Fliesen, wohin das Auge reichte.
Ein beiges Universum, das ein bisschen nach selbstgebackenem Fünf-Minuten-Körnerbrot und Kaffee roch.
Und, naja, ein klitzekleines bisschen staubig.
„Hier könnte auch mal wieder gewischt werden“, murmelte sie diplomatisch.
„Aber hey, danke, Brodie. Mehr Grip für mich.“
Sie näherte sich der Milchglas-Schublade in der Ecke.
Ihre winzigen Äuglein suchten nach dem Süßen.
Doch was erblickte sie?
Datteln.
Salatkörner.
Und, Moment, war das... dunkle Schokolade mit 85 % Kakaoanteil?
„Kein Wunder, dass der Fastenplan im Altpapier liegt…“, schnaubte Mona liebevoll.
„Datteln sind ja schön und gut, aber ich würd’ auch irgendwann schwach.“
Sie zog weiter.
Durch den Flur, immer schön an der Wand entlang (keine Krümel, wie enttäuschend)
und dann, links:
Das Wohnzimmer.
Sie huschte über die Schwelle und hielt inne.
Es war riesig.
Weite Flächen, ein roter Teppich unter dem Couchtisch, viele Kissen auf dem Sofa.
Alles roch leicht nach Holz, Harz und Erinnerungen.
Aber Nahrung? Fehlanzeige.
„Hier lebt wohl keiner mit Krümel-Hinterlassenschaften… schade eigentlich.“
Trotzdem ließ sie sich nicht entmutigen.
Sie kletterte die Sofakante hoch, schmiss sich rücklings auf ein Kissen im Retro-Muster und starrte an die Decke.
Von hier oben sah sie es:
Auf dem weißen Lowboard vor dem Fernseher thronte ein silbernes Flugzeug, elegant und glänzend, ein Mitbringsel aus Toulouse.
Dann auf der Fensterbank zwei Lavasteine von Gran Canaria, rau, dunkel, echt.
Und zur linken: ein Kerzenleuchter mit drei Armen, silbern, zierlich, ein Andenken von Joss’ Oma zur Konfirmation.
Still, würdevoll. Fast feierlich.
„Die zwei haben wirklich ein schönes Zuhause…“, dachte sie.
„Kein Wunder, dass ich mich nicht verabschieden konnte.“
Ihr Blick wanderte nach rechts.
Da hingen sie:
die knallroten Lackregale vom großen Schweden, sorgfältig bestückt mit Platten.
Vinyl an Vinyl.
Und da, mittig, etwas abgenutzt, prangte eine, die ihr Herz tanzen ließ:
GENESIS, I Can’t Dance
Sie konnte nicht anders.
Mitten auf dem Sofakissen fing sie an, sich rhythmisch zu wippen.
Ein Beinchen nach vorn, eins zur Seite.
Sie summte:
„I can’t dance… I can’t talk…“
Ihre acht winzigen Füße wirbelten über den Stoff wie über eine Tanzfläche.
Bibi hätte gesagt: „Peinlich.“
Renni hätte gerufen: „Zugabe!“
Schraddi? Der hätte es heimlich aufgenommen.
Aber heute war sie allein.
Und das war auch mal schön.
„Ich kann nicht tanzen? Von wegen. Ich tanz, weil ich noch hier bin.“
Das Büro, der flüsternde Bildschirm und das Passwort des Grauens
Gerade als Mona sich aus ihrem Genesis, Tanz auf dem Kissen rollen wollte,
fiel Licht durch den Türspalt.
Brodie war wieder da.
Ein paar Sekunden war nur das Klacken der Tür zu hören, dann:
„I can’t dance… I can’t talk…“
Mona erstarrte.
Hatte sie laut mitgesummt?
Nein… oder?
Aber Brodie blieb kurz stehen, schüttelte den Kopf und lachte leise:
„Ich hab ja nen Ohrwurm heute... wo kam der denn her?“
Und war dann auch schon wieder in der Küche verschwunden.
Die Tür fiel ins Schloss.
Der Duft nach Suppe zog durch den Flur.
Mona schüttelte sich.
„Okay, Rückweg oder Abenteuer?“
Die Antwort kam in Form zweier klitzekleiner Klopfzeichen:
Bibi und Renni waren ihr gefolgt.
„Rückweg ist langweilig“, flüsterte Bibi.
„Abenteuer!“, rief Renni.
Und schon kletterten die drei vom Sofa.
Sie huschten durch den Flur.
Links der große weiße Schrank mit dem runden Glaslicht ,
die LED, Kerze flackerte leise vor sich hin.
Aber es war die rechte Seite, die sie lockte:
Die Bürotür, einen Spalt offen.
Sie glitten durch den Türspalt, bewunderten die schöne neue weiße Tür.
„Die neuen Türen gefallen mir“, sagte Mona. „Aber klettern kann man daran nicht… null Grip.“
„Ist ja auch 'ne Tür, keine Kletterwand“, murmelte Bibi trocken.
Im Büro erstreckte sich der Hochflorteppich wie ein samtener Dschungel vor ihnen.
Braun. Flauschig. Voller Möglichkeiten.
Doch den wollten sie später erkunden.
Jetzt war der Schreibtisch dran.
Ein Eckschreibtisch mit kühlen, metallenen Tischbeinen,
offen, übersichtlich, also theoretisch.
Direkt davor: ein Papiersammler aus schwarzem Buchstabengeflecht.
„Was steht da?“
„‘LUFTBERG’.“
„‘GRABSTUFF’? …nein, das ergibt keinen Sinn…“
„Weiter.“
Der Blick fiel auf den alten Holzstuhl mit der eingeschnitzten Muschel.
„Den hat Joss restauriert“, flüsterte Mona ehrfürchtig.
„Bevor Brodie kam. Krass, oder?“
„Zeit für Höhenluft“, sagte Renni, und los ging’s.
Sie erklommen den Stuhl, hangelten sich an der Rückenlehne hoch, schoben sich auf die Sitzfläche.
Dann: der Sprung auf den Schreibtisch.
„Boah“, stöhnte Mona. „Das ist... also... DAS ist Ablagebedarf pur.“
„Das ist ein Archäologiestudium“, ergänzte Bibi.
„Oder ein Tatort“, flüsterte Renni und zeigte auf die Ecke mit Post, its, die allesamt von vorletztem Jahr waren.
Aber inmitten des Chaos:
Der Laptop.
Zugeklappt.
Schwer.
Gemeinsam stemmten sie sich dagegen, keuchten, rutschten aus,
bis, klack!, die Klappe nachgab.
Der Bildschirm leuchtete auf.
Passwort.
„Natürlich“, seufzte Mona. „War ja klar.“
„Wie hieß nochmal ihr WLAN?“ fragte Bibi.
„Hummelhimmel“, antwortete Renni.
„Dann ist das hier bestimmt... naja… Passwort?“
Renni flitzte über die Tastatur.
P… A… S… S… W… O… R… T
Bing!
Willkommen.
„Brodie...“, sagte Mona grinsend, „du bist herrlich berechenbar.“
Und dann tippten sie.
Ein kleines, feines Schreiben, mit winzigen Krabbelfingern, Spinnenfäden und viel Mühe:
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Von: Anonymous (freundlich gemeint)
An: Brodie
Betreff: Ablagealarm
„Hallo Brodie,
du hast ein wunderschönes Zuhause.
Aber dein Schreibtisch schreit leise nach Ordnung.
Ganz liebevoll gemeint. Vielleicht morgen mal ein bisschen sortieren?
P.S.: Die Genesis, Platte war ein Knaller. Danke für den Ohrwurm.
Mit krümeliger Hochachtung,
Ein(e) stille(r) Beobachter(in)“
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„Senden?“
„Senden.“
Click.
Dann klappten sie den Laptop vorsichtig wieder zu.
Mona, Bibi und Renni blickten sich an.
„Mission erfüllt.“
Und huschten zurück in Richtung Flur ,
bereit für das nächste Abenteuer.
Ende
Epilog: Von Krümeln, Küchenschubladen und kleinen Siegen
Mona sitzt wieder in ihrer Decke.
Ein leichter Geruch von frisch gewaschener Wäsche liegt in der Luft.
Durch die Tür dringt Musik, heute mal keine Beatles, sondern irgendwas mit Saxophon und Seele.
Sie seufzt zufrieden.
Nicht, weil sie groß oder bedeutend wäre,
sondern weil sie ihren Platz kennt.
Ein Zuhause im Flausch.
Ein Netzwerk aus Fäden, Freundschaft und feinem Gespür.
Ein Leben zwischen Datteln und Daten.
Und während Brodie ahnungslos ihre Suppe rührt, hängt am Griff der gelben Tonne schon ein neuer Zettel.
Diesmal in Glitzerpapier.
Nur ein Wort steht darauf:
„Fortsetzung?"