Ritter Rötje im Traumland

Die Nacht der glitzernden Gedanken

Die Trutzmulde war warm.
Draußen rauschte der Wind durch Brodies Pflanzenwelt, und das Mondlicht zeichnete milchige Muster auf den Boden.
Ritter Rötje lag eingerollt auf seinem Mooskissen, sein Walnusshut leicht verrutscht.

Er hatte Wache gehalten, bis Brodie endlich eingeschlafen war.
Jetzt war er dran.

Gerade, als ein leiser Gedanke durch sein Herz flimmerte,
dieser Gedanke, ob er wohl wirklich genügte,
ob ein winziger Ritter mit einer Zahnstocherlanze in einer Welt wie dieser überhaupt etwas bedeutete –

…kam der Fisch.

Nicht mit einem Knall.
Nicht mit einem Tusch.
Sondern einfach so:
Blubb. Winken. Lächeln.

Und mit diesem Lächeln begann der Traum.

Der Bonbonpfad ins Ungewisse

Rötje stand an einem Fluss.
Die Luft war süß. Irgendwie… karamellig.
Der Boden unter seinen Füßen war weich, wie mit Puderzucker überzogen.

Vor ihm schwammen runde, glänzende Bonbons auf dem Wasser.
Erdbeerrot. Zitronengelb. Himbeerweiß.

Ein Steg.
Aber keiner wie sonst.
Nicht aus Holz. Nicht aus Stein.
Ein Steg aus Mut und Zucker.

„Na dann“, sagte Rötje leise und zog seinen kleinen Umhang zurecht.

Sein erster Schritt hinterließ ein leises Pling.
Der zweite: ein Schmatz.

Er grinste.
„Brodie würde das mögen“, flüsterte er.
Und ging weiter.
Ein Bonbon nach dem anderen.

Der Wald, der nach Vanille roch

Kaum hatte Rötje den letzten Bonbon betreten,
flackerte das Licht.
Nicht finster, eher wie ein Moment, in dem die Welt kurz den Atem anhält.

Dann war da Wald.
Groß. Alt.
Die Bäume hoch wie Kirchtürme.
Und mitten drin, ein Glitzern.

Rötje trat näher, die Lanze fest in der Hand.
Und da stand sie.

Eine Eistüte, so hoch wie ein Schloss.
Drei Kugeln thronen darauf: Pistazie. Vanille. Erdbeere.
Langsam tropfte eine Schmelzspur den Waffelrand hinab,
wie eine Uhr aus Süße.

Aber es war nicht das Eis, das ihn innehalten ließ.
Es war das Gefühl.
Als würde jemand, oder etwas, ihn beobachten.

Rötje trat näher.
Ein Ast knackte.
Er drehte sich blitzschnell um und da!
Ein Schatten huschte zwischen den Bäumen.
Etwas flach und flink, wie ein Lakritzband, das sich bewegte.

Er spürte sein Herz schlagen.
Nicht aus Angst.
Sondern weil er wusste:
Jetzt wird es ernst.

Die Prüfung über dem Abgrund

„Wenn du zurück willst, geh jetzt“, raunte eine Stimme aus dem Wind.

Aber Ritter Rötje ging nicht zurück.
Er war klein,  ja.
Aber kein bisschen weniger tapfer.

Der Weg endete abrupt.
Vor ihm: ein tiefer Abgrund.
Unten rauschte ein Fluss, wild und bunt, als hätte jemand Regenbogen in Brause aufgelöst.
Und über dem Abgrund, nichts.
Keine Brücke. Kein Pfad.

Nur eine schwarze Liane, die leicht pendelte.
Eine Lakritzschnecke.
Dünn. Gedreht. Herausfordernd.

Rötje schluckte.
Dann drehte er die Lanze, hakte sie ein und sprang.

Für den Bruchteil eines Moments war da nur Stille.
Dann: Schwung. Fahrt.
Er flog.

Unter ihm wirbelte das Wasser.
Und aus den Fluten,
tauchte plötzlich der Fisch auf.
Dieses Mal größer.
Und er sagte nichts.
Aber Rötje sah in seinen Augen:

„Es ist DEIN Traum. Also wag ihn.“

Rötje landete auf der anderen Seite, hart.
Aber aufrecht.

Die Lakritzliane baumelte langsam aus.
Und der Wald war still.
Als hätte er bestanden.
Die erste Prüfung.

Der Schokogipfel

Der Boden unter seinen Füßen war weich und duftete süß.
Rötje kniete sich hin, berührte ihn.
„Schokolade...?“ murmelte er.

Vor ihm ragte ein brauner, glänzender Berg in die Höhe, kuppelförmig, steil,
und überzogen mit Zuckerglasur und unzähligen bunten Streuseln, die wie Griffmulden in der Wand klebten.

Ein Schokokuss.
Kein gewöhnlicher.
Einer, der knisterte, als würde er ihn herausfordern.

„Na los, Ritterlein. Du wolltest doch wissen, ob du’s kannst...“

Rötje sog die Luft ein.
Nicht zögern. Nicht nachdenken. Klettern.

Seine Finger rutschten beim ersten Griff ab, zu glatt.
Der zweite hielt.
Der dritte brach ab.
Ein roter Streusel kullerte an ihm vorbei in die Tiefe.

Der Schokoguss begann zu schmelzen.
Die Sonne über ihm war warm.
Zuckrig warm.
Unangenehm warm.

Rötje schob sich weiter.
Die Hände klebrig. Die Stirn voll Mut und Schweiß.

Er keuchte, aber nicht aus Angst.
Sondern aus Wille.

„Du hast schon dunklere Tage gesehen, Brodie“, dachte er.
„Dann kann ich auch das hier hoch.“

Und da, nach dem letzten Streusel,
nach dem letzten Zug mit seiner Zahnstocherlanze in eine klebrige Kante, stand er oben.

Die Welt unter ihm schimmerte in Zuckerfarben.
Und direkt vor ihm, mitten auf dem Gipfel, stand sie:

Die Dose.

Die große Brauseflut

Sie war riesig.
Größer als ein Haus.
Kippend.
Blau.
Und auf ihr stand:

Brodie’s Brause.

Rötje trat näher.
Die Dose zischte.

Mit einem dumpfen plopp öffnete sich die Lasche.
Und dann kam sie:
Die Flut aus Prickeln.
Ein Wasserfall aus blauer Brause,
der donnernd ins Tal stürzte –
wild, schäumend, leuchtend.

Und Rötje?

Er grinste.
Drehte sich um.
Hinter ihm lag, wie gerufen, ein riesiger Donut mit rosa Zuckerguss.

„Wenn schon träumen…“
Er sprang.

Rötje raftet

Der Donut war weich,
aber trug ihn.
Die Lanze diente als Paddel,
sein Umhang wehte wie eine kleine Fahne des „Ich kann das!“

Er rauschte den Fluss hinunter, vorbei an glitzernden Brausekronen,
durch Wellen, die nach Apfel und Himbeere rochen,
und immer an seiner Seite, der orange Fisch.
Zwinkernd. Wache haltend.

„Du hast’s geschafft, kleiner Ritter.
Jetzt nur noch: Loslassen. Genießen.“

Rötje lehnte sich zurück.
Schaute in den Himmel.
Und wusste:
Er war nicht nur träumend mutig.
Er war mutig. Punkt.


Heimkehr

Als die Sonne langsam tiefer sank
und der Fluss ruhiger wurde,
hörte Rötje eine leise Stimme.
Nicht laut.
Nicht fremd.

Brodie.
Im echten Leben.
Ein leiser Seufzer.
Ein winziges Lächeln.

Und dann:
Aufwachen.


Rötje blinzelte.
Die Regentonnen.
Die Trutzmulde.
Die vertrauten Geräusche des Gartens.

Er lag da.
Ganz ruhig.
Aber mit einem kleinen Zuckerkristall im Ohr.
Oder war es nur Morgentau?

Er setzte sich auf.
Rückte den Walnusshut gerade.
Und flüsterte:

„Ich komm klar, Brodie. Du auch.“

🌙 Nachklang - Was bleibt, wenn man aufwacht

Nicht jeder Traum ist nur ein Spiel.
Manche Träume testen dich.
Nicht mit Drachen oder Monstern, sondern mit dem, was du in dir selbst nicht ganz glaubst.

Ritter Rötje hat in dieser Nacht keine Welt gerettet.
Er hat auch keinen Schatz gefunden.
Er hat sich selbst gefunden.
Seinen Mut, seine Beharrlichkeit,
seinen Humor, selbst im Donut-Ring.

Und wenn er morgens aus der Trutzmulde krabbelt,
ist er nicht größer. Nicht schneller. Nicht stärker.

Aber in ihm ist jetzt etwas, das vorher nicht da war:

das Wissen, dass Mut nicht brüllt.
Mut atmet. Klettert. Hält durch.
Auch wenn niemand zusieht.

Der Fisch wird ihm wohl noch lange winken.
Die Brause wird noch lange in ihm sprudeln.
Und wenn Brodie irgendwann mal wieder zweifelt,
ob sie genug ist,  dann wird Rötje nur den Kopf neigen
und sagen:

„Ich hab’s gesehen, Brodie. Du kannst. Punkt.“